Drahtzieher der Gene

Die DNA bestimmt nicht alles. In jeder Körperzelle entscheidet eine übergeordnete Erbgut- Verwaltung, welche Gene arbeiten dürfen und welche nicht.

von Stefanie Reinberger,bild der wissenschaft, 6–2006


Wie schafft es eine Stammzelle, sich im Embryo zu über 200 verschiedenen Zellarten zu entwickeln? Obwohl sie ihre Gene dabei nicht verändert, wird sie zu etwas, dass mit der ursprünglichen Zelle überhaupt keine Ähnlichkeit hat. Diese Frage rückt bei den Stammzell- und Klonforschern immer mehr in den Mittelpunkt. Wer sie lösen kann, hat wahrscheinlich auch den Schlüssel zu neuen Therapien in der Hand.

„Das ist alles epigenetisch bedingt!“ Wie aus der Pistole geschossen kommt die knappe Antwort von Rudolf Jaenisch, einem deutschen Stammzellforscher am Whitehead Institute in Cambridge, Massachusetts. Epigenetik ist das aktuelle Zauberwort seiner Zunft.

 

Hinter dem Begriff, der sich von dem griechischen Wort „epi“ für „darüber“ ableitet, verbirgt sich eine Art höhere Verwaltungsebene der Genetik. Das Genom liefert mit dem DNA-Text zwar den Bauplan für das Leben, doch um ihn vernünftig lesen und damit arbeiten zu können, braucht die Zelle eine effektive Organisation. Dafür besitzt unser Erbgut eine Art Ordnungs- oder Katalogsystem. Proteinspulen sind die „Aktenordner“ der DNA mit kleinen Molekülen – wie Methylgruppen – als Etiketten. Noch kennen die Epigenetiker längst nicht alle Raffinessen dieses biologischen Ordnungssystems. Grob gilt: Eine Region, die dicht auf die Spulen gewickelt ist und viele Methyl-Anhängsel trägt, ist quasi stillgelegt. Unverpackte Abschnitte ohne derartige Markierungen sind dagegen aktiv: Ihre Information wird abgelesen, und aus den darin verschlüsselten Bauplänen werden Proteine hergestellt, die Zellen aufbauen oder Stoffwechsel betreiben.

 

Stammzellen sind die Babys unter den Zellen. Sie unterscheiden sich in ihrem epigenetischen Markierungsmuster ganz deutlich von den „erwachsenen“ spezialisierten Gewebezellen. Bei ihnen ist noch alles offen: Die Zellen vermehren sich schnell und besitzen die Fähigkeit, verschiedene Laufbahnen einzuschlagen. Erst später spezialisieren sie sich und reifen beispielsweise zu Nervenzellen heran. Dabei werden die „Jugend-Gene“ stillgelegt, die unter anderem für die vielfältigen Entwicklungsmöglichkeiten und die starke Vermehrungsfähigkeit verantwortlich sind. Im Gegenzug werden die Gene aktiv, die dem fertigen Neuron zu seinen typischen Eigenschaften verhelfen. Kurz gesagt: Die Zelle verändert beim Erwachsenwerden ihr epigenetisches Programm. Nur so ist es möglich, dass nach der Befruchtung aus einem kleinen Häufchen identischer embryonaler Stammzellen ein kompletter Organismus mit Haut, Haaren und funktionsfähigen Organen heranwächst – obwohl in jeder einzelnen Zelle das gleiche Genom vorliegt.

 

So macht es die Natur. Stammzellforscher würden diesen Entwicklungsprozess gerne umdrehen, also die epigenetischen Spuren im Zellkern löschen, um Körpergewebe in einen embryonenähnlichen Zustand zurückzuversetzen. Denn embryonale Stammzellen bergen als zelluläre Alleskönner ein großes Potenzial für die regenerative Medizin. Sie könnten eines Tages dazu dienen, beschädigtes Gewebe zu reparieren – etwa bei Menschen, die an der Parkinson-Krankheit leiden, oder bei Querschnittsgelähmten. Ideal wären dafür Zellen, die mit denen des Patienten genetisch identisch sind und von dessen Immunsystem nicht als „fremd“ erkannt werden. Damit ließe sich das Risiko der Abstoßung minimieren.

 

Doch die Alleskönner gibt es nur in sehr frühen Stadien der Embryonalentwicklung – im Körper eines Erwachsenen sind sie nicht zu finden. Um trotzdem körpereigene Stammzellen mit dem Potenzial der embryonalen zu haben, arbeiten die Forscher an etwas, dass wie Science-Fiction klingt: der epigenetischen Zell- Reprogrammierung.

 

„Im Prinzip ist das möglich“, sagt Epigenetiker Jörn Walter von der Universität des Saarlandes. Die Natur hat eine Neuprogrammierung von Zellen durchaus vorgesehen. Sie findet zum Beispiel während der Reifung von Eizellen und Spermien statt und auch nach der Befruchtung. „In beiden Fällen verschwinden auf allen Chromosomen epigenetische Markierungen und werden danach neu gesetzt“, sagt Walter. Die beiden Umprogrammierungen haben unterschiedliche Ziele: „In Keimzellen ist es wichtig, elterliche Prägungsmuster zu übertragen. Nach der Befruchtung sorgt die Reprogrammierung dafür, die Zellen in den Alleskönner-Grundzustand zu überführen, damit die Entwicklung korrekt ablaufen kann.“

 

Dieses Großreinemachen und die anschließende neue Prägung des Genoms versuchen Forscher beim Klonen nach der Dolly-Methode zu imitieren. Genau wie bei der Zeugung des weltberühmten Klonschafs injizieren sie den Kern aus einer Körperzelle in eine vorher entkernte Eizelle – in der Hoffnung, dass Proteine der Eizelle das epigenetische Programm auf „Neustart“ stellen. Allerdings ist die Fehlerrate dabei enorm hoch. „Epigenetisch läuft offensichtlich vieles recht unkoordiniert“, nennt Walter das Problem. In den meisten der so entstandenen Embryonen finden Forscher epigenetische Muster auf den Chromosomen, die nicht „normal“ aussehen. „Wir können da bislang kein System erkennen. Deshalb haben wir auch keinen Anhaltspunkt dafür, was bei der Reprogrammierung schief läuft“, erklärt der Wissenschaftler.

 

Das epigenetische Chaos führt dazu, dass nur ein Bruchteil der auf diese Weise erzeugten Embryos jemals das Licht der Welt erblickt. „Bei geklonten Mäusen erreichen nur etwa zehn Prozent das Stadium der Keimblase, der Blastozyste“, berichtet Jaenisch. „Andere sterben im weiteren Verlauf der Entwicklung ab, sodass letztlich nur ein Prozent der Klonmäuse geboren wird. Und diese Tiere sind oft massiv geschädigt.“ Denn durch das unvollständige Reprogrammieren bleiben oft falsche Markierungen an den entscheidenden embryonalen Genen haften – und sie verharren in ihrem inaktiven Zustand. Eine normale Entwicklung ist damit unmöglich.

 

Allen Misserfolgen und Unklarheiten beim reproduktiven Klonen zum Trotz bleibt die Technik des Kerntransfers für Stammzellforscher Jaenisch und viele seiner Kollegen dennoch ein Thema – und zwar beim therapeutischen Klonen, bei dem ein Zellkern eines Patienten mit seiner genetischen Information in eine Eizelle übertragen wird. Aus dieser Eizelle entwickeln sich embryonale Stammzellen, aus denen sich Ersatzzellen für zerstörte Organe züchten lassen (siehe Grafik auf den Seiten 20 und 21).

 

„Das epigenetische Chaos, das beim reproduktiven Klonen für das massive Embryonensterben verantwortlich ist, stellt beim therapeutischen Klonen kein Problem dar“, sagt Jaenisch. Denn: Bei einer Stammzelltherapie werden die Zellen in einen Körper implantiert. Hier haben sie direkten Kontakt mit Körperzellen, die ihnen helfen, ihre epigenetische Programmierung richtig einzustellen. Anders ist es, wenn man aus den Stammzellen ein Tier herstellen will – dann haben die Zellen nur identische Kopien ihrer selbst um sich herum.

 

Dass das therapeutische Klonen im Prinzip funktioniert, hat Jaenisch schon vor Jahren bei Mäusen bewiesen. Doch Kritiker warnen: Embryonale Stammzellen seien epigenetisch instabil und könnten daher ein Risiko für Krebs und andere Erkrankungen bergen. Tatsächlich zeigten verschiedene Forschergruppen, dass in der Kulturschale vermehrte embryonale Stammzellen von Mäusen unterschiedliche Markierungen mit den Gen stilllegenden Methyl-Anhängseln aufweisen. Die Epigenetik lief also unkontrolliert in verschiedene Richtungen.

Anders der Befund von Wissenschaftlern um Roger Pedersen vom britischen Institute for Stem Cell Biology in Cambridge, veröffentlicht im Juni 2005: Sie hatten in menschlichen Stammzellen sechs Gene untersucht, die typischerweise eine epigenetische Prägung erfahren – und keinerlei Auffälligkeiten festgestellt.

 

Noch fehlt es an eleganten Wegen, um durch epigenetische Reprogrammierung Stammzellen zu erzeugen. Das Klonen funktioniert zwar einigermaßen, aber es ist schwierig und ethisch umstritten. Von einer epigenetischen Zell-Reprogrammierung mithilfe eines einfachen biochemischen Cocktails ist man noch weit entfernt. Die Arbeitsgruppe von Hans Schöler am Max-Planck-Institut für Molekulare Biomedizin in Münster arbeitet deshalb an einem völlig anderen Weg, um Körperzellen epigenetisch zu verjüngen: der Zellfusion. Den Wissenschaftlern war es Ende 2004 gelungen, Nervenzellen von Mäusen zu reprogrammieren, indem sie die Neuronen entweder mit embryonalen Stammzellen oder mit deren Zellkernen verschmolzen. Beides funktionierte.

 

Ähnliches berichte vor Kurzem das Forscherteam um Kevin Eggan und Douglas Melton vom Havard Stem Cell Institute in Cambridge, Massachusetts. Sie fusionierten Zellen aus der menschlichen Haut mit humanen embryonalen Stammzellen. Mit demselben Ergebnis wie Schöler: Es kam zu einer vollständigen Reprogrammierung. In den Hautzellen wurden Gene angeknipst, die für Stammzellen typisch sind. Als einen weiteren Beweis fanden die Forscher typische epigenetische Methylierungsmuster.

 

Trotz dieser Erfolge ist die Methode der Zellverschmelzung für eine Stammzelltherapie derzeit nicht brauchbar, urteilt Jaenisch. Beim Verschmelzen entstehen Zellen mit einem doppelten Chromosomensatz, also mit 92 statt 46 Chromosomen. „Dieses Problem muss behoben werden, denn die überzähligen Chromosomen können im Organismus große Schäden anrichten“, sagt Jaenisch. „Aber das ist technisch momentan noch nicht möglich.“ Er sieht in der Zellfusion jedoch einen guten Ansatz, um mehr über die epigenetischen Vorgänge und die zugrunde liegenden Faktoren bei der Reprogrammierung zu lernen. Dieses Wissens birgt den Schlüssel zu einem neuen Zeitalter der Biomedizin, in dem sich völlig neue Therapieansätze offenbaren werden, falls sich das Programm von Gewebezellen durch biochemisches Manipulieren tatsächlich auf „Start“ zurückdrehen lässt. ■

 

bild der wissenschaft fragte Bernhard Horsthemke, Professor für Humangenetik am Uniklinikum Essen, warum bei künstlichen Befruchtungen die epigenetische Prägung oft fehlerhaft zu sein scheint.

 

bdw: Wieso haben Sie den Verdacht, Herr Prof. Horsthemke, dass die Zeugung im Reagenzglas ein erhöhtes Risiko für epigenetische Fehler birgt?

 

Horsthemke: Ein Berliner Kollege nachte mich 2001 auf eine Patientin aufmerksam, die durch assisierte, also künstliche Befruchtung zur Welt gekommen war. Sie litt aufgrund eines epigenetischen Fehlers am Angelman-Syndrom, einer genetisch bedingten geistigen Behinderung. Kurz danach erfuhr ich von einer zweiten Erkrankung. Da wurde ich aufmerksam. Die Krankheit ist äußerst selten und nur bei drei bis vier Prozent der Patienten epigenetisch bedingt. Als ich bei einer Tagung in den USA darüber berichtete, erzählte prompt ein Zuhörer, dass er Ähnliches beobachtet hätte für das Beckwith-Wiedemann-Syndrom, bei dem viele Organe fehlgebildet sind.

 

bdw: Gibt es Studien, die diese Beobachtungen bestätigen?

 

Horsthemke: In den letzten Jahren gab es in Großbritannien, Frankreich, Australien und den USA Untersuchungen, die einen Zusammenhang nahe legen. Michael Ludwig vom Endokrinologikum Hamburg und ich haben bei Patienten mit Angelman-Syndrom, deren Eltern eingeschränkt fruchtbar sind, einen erhöhten Anteil epigenetischer Fehlprägung gefunden, nämlich 25 Prozent. Dabei machte es keinen Unterschied, ob die Kinder nach einer langen Phase unerfüllten Kinderwunschs spontan oder mithilfe assistierter Reproduktion gezeugt worden waren.

 

bdw: Reicht das, um Ihre Vermutung zu beweisen?

 

Horsthemke: Nein, ich würde eher von einem dringend begründeten Verdacht sprechen. Aber es gibt noch weitere Anhaltspunkte. So haben Kinder aus assistierter Befruchtung häufiger ein vermindertes Geburtsgewicht – auch wenn es keine Mehrlingsgeburten waren, bei denen das normal wäre. Epigenetiker sind mittlerweile ziemlich sicher, dass es sich dabei zumindest teilweise um die Folge falscher epigenetischer Prägung handelt. Michael Ludwig und ich planen dazu eine Studie.

 

bdw: Wo könnte Ihrer Meinung nach die Fehlerquelle liegen?

Horsthemke: Wir sehen da verschiedene Möglichkeiten. Die Fehler könnten bereits im genetischen Material der Eltern verankert sein. Das würde auch ein erhöhtes Risiko bei Paaren erklären, die nicht sofort schwanger werden. Bei der assistierten Befruchtung könnten zudem falsch geprägte Spermien und Eizellen zusammenfinden, die unter natürlichen Bedingungen kaum zum Zuge gekommen wären. Außerdem steht die Hormonbehandlung unter Verdacht. Sie beschleunigt die Reifung der Eizelle, wodurch ihre epigenetische Prägung möglicherweise unvollständig ist. Eine Rolle könnte auch spielen, dass die befruchteten Zellen für zwei bis sechs Tage in der Kulturschale gehegt werden. Und zumindest im Tierexperimente wurde bewiesen, dass die in der Kulturschale herrschenden Bedingungen das epigenetische Muster des frühen Embryos stören können.

 

bdw: Welche Konsequenzen sollte man aus Ihren Beobachtungen ziehen?

 

Horsthemke: Weiterforschen. Und ich denke, man sollte die Eltern über das Risiko aufklären. Aber für Panik besteht kein Anlass. Dafür sind die Erkrankungen durch assistierte Befruchtung doch zu selten.

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