Sprünge im Gehirn

von Stefanie Reinberger, bild der wissenschaft, 4/2010

 

Springende Gene unterstützen nicht nur die Evolution – sie sorgen auch dafür, dass kein Gehirn dem anderen gleicht.

 

So ist es oft in der Wissenschaft: Kaum gilt eine Entdeckung als anerkannt, schon findet sich ein weiteres Steinchen vom Mosaik – und es entsteht ein neues Bild. Ähnlich erging es bild der wissenschaft mit dem Artikel über Transposons, die springenden Gene. Die September-Ausgabe 2009 mit dem Beitrag „Das große Springen“ von Bernhard Epping war gerade erschienen, als Wissenschaftler vom Salk Institute in La Jolla, Kalifornien, im bekannten Fachjournal „nature“ eine spektakuläre neue Entdeckung publizierten: Danach spielen die molekularen Springteufel nicht nur eine Rolle in der Evolution des Menschen, sondern beeinflussen möglicherweise auch die Entwicklung jedes Einzelnen von uns – und zwar ausgerechnet im Gehirn.

Erste Hinweise auf das Springen im Oberstübchen fanden Forscher um den amerikanischen Genetiker Fred Gage vor gut acht Jahren, als sie neurale Progenitorzellen untersuchten, die Vorläufer von Neuronen und anderen wichtigen Zelltypen des Gehirns. Die neun aktivsten Gene, so stellten sie fest, waren Retrotransposons vom Typ LINE1 – die beim Menschen wichtigsten mobilen Elemente. Das weckte Gages Interesse, und im Jahr 2005 bewies er – gemeinsam mit John Moran von der Michigan Medical School in Ann Arbor, USA –, dass die mobilen Gene im Denkorgan tatsächlich springen. Die Forscher veränderten dazu ein menschliches LINE1-Element so, dass es leuchtet, sobald es ins Erbgut eingefügt ist. Sie schleusten es in Mäuse ein und beobachteten, wie sich die genetischen Springteufel im Gehirn der Tiere vermehrten, nicht aber in anderen Organen. Mehr noch: Experimente mit Rattenzellen zeigten, dass der Einbau die Entwicklung beeinflusst. Vorläufer mit Retrotransposon reiften häufiger zu Neuronen heran als solche ohne.

NUR EIN ZELLROULETTE – ODER MEHR?

Sollten die springenden Gene am Ende doch für die Entwicklung des Individuums zuständig sein – gerade so, wie Transposon-Entdeckerin Barbara McClintock vor 60 Jahren annahm? Und: Springen sie auch im menschlichen Gehirn? Die zweite Frage beantwortete Gages Team im August dieses Jahres mit einem klaren „Ja“. Die Forscher hatten Proben aus Herz, Hirn und Leber von Verstorbenen untersucht und festgestellt: In Gehirn-Neuronen liegen im Vergleich zu den anderen Geweben bis zu 100 Extra-Exemplare der genetischen Springer vor. Sie müssen also in den Vorläuferzellen hochaktiv gewesen sein. „Möglicherweise“, spekuliert Gage, „tragen sie dazu bei, dass die Neuronen-Ausstattung unseres Gehirns so vielfältig ist.“ Er verweist auf das Immunsystem, das sich ehemaliger Transposons bedient, um eine enorme Vielfalt an Antikörpern zu kreieren.

Doch Jürgen Brosius, Professor für Genetik an der Universität Münster, ist skeptisch. „LINE1-Elemente sind in allen sich teilenden Zellen aktiv, nicht nur in neuralen Vorläufern“, sagt er. Das mache sich beim Einzelnen aber eher in Form von Krankheiten wie Krebs bemerkbar – im Gehirn vielleicht als Verlust der geistigen Fitness im Alter. Auch den Vergleich mit dem Immunsystem hält Brosius für unpassend: „Dort handelt es sich um einen etablierten Mechanismus. Die Transposon-Aktivität in den Progenitorzellen scheint aber eher dem Zufall zu unterliegen.“ Ob ihr Einbau ins Genom einen positiven, einen negativen oder gar keinen Effekt hat, wäre damit bei jedem Hüpfer völlig offen.

Nur ein Zellroulette also? Vielleicht steckt doch mehr hinter den Beobachtungen. Denn: Während in anderen Gewebetypen spezielle chemische Anhängsel der DNA die Aktivität von Retrotransposons unterdrücken, fehlen diese in neuralen Vorläuferzellen. Hier steht der Schalter auf „springen“. Mehr noch: Die Amerikaner haben erste Hinweise darauf, dass sich die LINE1-Elemente nicht einfach irgendwo ins Erbgut setzen. In 16 von 19 bislang untersuchten Fällen machten sie sich in der Nähe von Genen an Stellen breit, wo sie deren Aktivität beeinflussen können.

Fazit: Das große Springen allein wird sicher nicht die Vielfalt menschlicher Gehirne erklären können. Aber, so Fred Gage: „Es könnte einen Beitrag leisten zur Erklärung der Individualität unserer Denkorgane.“ ■

 

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